Zwischen Tag und Traum


Gefahrvolle Naturschöpfung: Barbara Kochs Große Landschaften

Die Wogen schlagen in brausenden, von heller Gischt gesäumten Strudeln hoch. Auf dem Wasser treibt ein herrenloses Boot mit einigen Schafen an Bord. Ob sie ausgesetzt wurden oder in Sicherheit gebracht, lässt sich nicht eindeutig sagen. Im wirbelnden Wellenrauschen wird bei genauerem Hinsehen ein dunkles Geschöpf sichtbar. Ist es Hund oder Wolf? Bringt es Rettung oder Verderben? Auch diese Fragen bleiben in Barbara Kochs vielschichtig-turbulentem Seestück Sturmtief (1988) in der Schwebe. „Entre chien et loup“, zwischen Hund und Wolf: So wird in Frankreich die blaue Stunde genannt, wenn zur Abenddämmerung die Gewissheiten schwinden und man nicht mehr ausmachen kann, ob man es mit Freund zu tun hat oder mit Feind. „Neben dem Wilden das Unschuldige, neben dem Kampf das Sanfte“1: Diese Ambivalenzen, poetisch in den Ateliernotizen (1994) der Hamburger Künstlerin artikuliert, ziehen sich leitmotivisch durch deren Große Landschaften hindurch. Entstanden zwischen 1986 und 1989, führen sie eine frühere Landschaftsserie von Barbara Koch aus den Jahren 1984 bis 1986 fort (letztere geschaffen während ihres Studiums der Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, das sie 1987 als Meisterschülerin von Documenta-6-Teilnehmer Hermann Albert abschloss). Die von märchenhaften Tierwesen bevölkerten Phantasieterrains, die sich in den Großen Landschaften entfalten, scheinen aus den verborgenen Winkeln der Seele emporzusteigen: „Verschwiegene Bilder“2, die im Raum der Malerei Gestalt annehmen, ohne sich voll und ganz zu erkennen zu geben.

Die Großen Landschaften (und die Untergruppe Die Herde) handeln nicht von festgeschriebenen Orten und repräsentieren auch nicht im Sinne von Roland Barthes’ Definition der Photographie „ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild“3. Vielmehr entspringen sie ebenso wie die darin agierenden Tiere der Vorstellungswelt der Künstlerin, hervorgebracht aus der schwer greifbaren Sphäre zwischen Tag und Traum, eines „Erfahrungsgebiets, in welchem die Grenzen zwischen der so genannten Innenwelt und der Außenwelt […] sich mehr und mehr verwischen“4. Die Schauplätze, an denen Barbara Koch ihre bewegten und stillen Dramen mit expressivem Pinselstrich und intensiven Farben zur Entfaltung bringt, haben oft etwas Raues, Wildes, Urwüchsiges. Als speisten sie sich aus den Quellen „der ältesten Bildkunst, der Höhlenkunst der Eiszeit“, evoziert die Künstlerin in ihren „Tierszenarien“, wie Michael Mechel 1994 in seinen Bemerkungen zu ihren Bildern erläutert, „die Aura der archaischen Tiererfahrung“5. Es sind Landschaften, die „vom Menschen nicht geformt sind“6 und in denen die originäre Schönheit der Natur in ihrer lebensvollen Fülle mit malerischer Wucht zum Ausdruck kommt. Doch hat diese Schönheit auch Schattenseiten und Brüche. Die Landschaften mit ihrer opulenten, gleichwohl reduziert-stilisierten Flora und Fauna offenbaren sich als abgründige Spannungsfelder, die von „Unsicherheit, Gefahr, Verfolgtwerden“7 bestimmt sind und damit für das größere Bild irdischer Existenzerfahrung stehen: „Erde: Schoß und Grab. Lebensspendende, bedrohliche Schöpfung“8, wie Barbara Koch es fasst.

Die den Bildern innewohnende Doppelbödigkeit zeigt sich oft erst auf den zweiten Blick, wenn man sich als Betrachter oder Betrachterin hinein vertieft ins teils unwegsame, von Dickicht und anderen Seh-Hindernissen versperrten, dann wieder weit offenen Gelände der Farben und Formen, die zwischen Figuration und Abstraktion oszillieren. Am steilen grünen Abhang steht ein Steinbock, im Begriff einen tosenden Wasserfall zu überqueren oder in die Tiefe zu stürzen (Fels und Bach, 1988). Ein anderes Mal schwebt ein Schaf im freien Flug (oder Fall?) über einem Gewässer, während die restliche Herde in der Nähe weidet (Am Bach, 1987). In herbstlich leuchtenden Waldstücken erkennt man Wildschweine, die auf der Flucht vor Jagdhunden durchs Gehölz laufen (Wildschweinhatz 1, 1987, und 2, 1988). Und auf der Weide umkreisen wiederum schwarze Hunde (oder sind es Wölfe?) eine Schafherde, deren hastig-aufgeregte Rückzugsbewegungen man förmlich spürt (Auf der Weide, 1987), derweil auf anderem, flirrendem Terrain ein Schäfer sein Messer zückt – ob zum scheren oder zum schlachten der Tiere, ist unklar. Bewegungslos, lauernd fast, verharren Krähen in den Wipfeln hoher, dicht gedrängter Bäume wie bedrohliche Todesboten, die aber auch im nächsten Moment aufflattern und davonfliegen könnten (Waldstück, 1987). „Gibt es einen Ausweg, kommt man weg, kann man sich retten? Das Ende ist immer offen“9, so die Künstlerin. Sie bietet keine Auflösung, sondern Kippsituationen, die ständig von einem in den anderen Zustand umschlagen.

Die teils strahlende, teils verhaltene Farbigkeit, die Barbara Koch durch eine Kombination aus Erde und Pigmente erzielt (wodurch die naturhaft-ursprüngliche Präsenz der Bilder noch verstärkt wird), verleiht selbst bedrohlichen Konstellationen von Jägern und Gejagten oder Ansichten prekärer Balancen eine vitale, hoffnungsreiche, mitreißende Dynamik. Ein Credo des bedeutenden Expressionisten und passionierten Freundes kühner Farbgebung Franz Marc (1880-1916) kommt einem dabei in den Sinn, der in seinem Aufsatz „Über das Tier in der Kunst“ postulierte: „Ich suche nach einem guten, reinen, lichten Stil, in dem wenigstens ein Teil dessen, was wir modernen Maler zu sagen haben werden, restlos aufgehen kann. Und das wäre vielleicht ein Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge, ein pantheistisches Sichhineinfühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft –; das zum ‚Bilde’ machen, mit neuen Bewegungen und mit Farben, die unseres alten Staffeleibildes spotten.“10 Barbara Kochs Große Landschaften entspannen sich nicht zuletzt auch vor dem Horizont der malerischen Aufbrüche der Avantgarde, wobei Marcs Forderung nach einem „Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge“ von der Künstlerin auf ureigene Weise in ihren poetischen Texten formuliert und ihrer Malerei umgesetzt wird: „Bilder die atmen und klingen: Musik. Das Wiesenstück will grün sein – feucht, trocken, duftend. Der Wind, das grüne Meer wogt leicht. Dunst steht, Nebel liegt. Es wohnen Tiere. Hier stirbt es sich. Das Wiesenstück ist weich, im Sommer hart. Ich bin mit den Waffen der Malerei auf Jagd.“11

In dieser Hinsicht sind Barbara Kochs Große Landschaften über die abstrakt-erzählerische Darstellung der Natur (und ihrer Tücken) hinaus Allegorien unseres Daseins als Menschen, die wir uns seit jeher als Herdenwesen organisieren, mit womöglich weitaus mehr Nähe zur Tierwelt als wir uns gern eingestehen. Das kreatürliche Schauspiel, das die Künstlerin anhand ihrer Tierfiguren und deren Verflechtungen in die „Rhythmen: Gefressenwerden, Fressen, Gefressenwerden. […] Geburt – Tod – Geburt“12 zur Anschauung bringt, verweist auf die Kreisläufe, die unser aller Leben auf dieser Welt bestimmen, das Helldunkel, in dem wir uns zu orientieren suchen, der Wechsel von Licht und Schatten, Selbstbehauptung und Scheitern und wieder von vorn beginnen – jene Energien eben, die unsere Geschicke wesentlich determinieren. Barbara Koch nimmt uns, die Betrachter ihrer Großen Landschaften, mit auf „Entdeckungsfahrten ins Unbewusste“13 und eröffnet uns über den Weg ihrer surrealen (Traum-)Bilder neue Perspektiven der Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit. In den Worten von Franz Marc: „Ich sah das Bild, das in den Augen des Teichhuhns sich bricht, wenn es untertaucht: die tausend Ringe, die jedes kleine Leben einfassen, das Blau der flüsternden Himmel, das der See trinkt, das verzückte Auftauchen an einem andern Ort, – erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort.“14

Belinda Grace Gardner

1 Aus: Barbara Koch: Ateliernotizen, (4) In der Landschaft 1986-89, 1994.
2 Vgl. Uwe M. Schneede: 7. Malerei jenseits der Malerei: Surrealistische Verfahren 1924-1939, in: ders.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahr- 
hundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2001, S. 88.
3 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, (La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980) aus d. Franz. 
v. Dietrich Leube, Frankfurt/Main 1989, S. 126.
4 Vgl. Max Ernst: Was ist Surrealismus?, in: ders.: Schnabelmax und Nachtigall. Texte und Bilder, hrsg. v. Pierre Gallissaires, Hamburg 1994, S. 53
5 Aus Michael Mechel: Im Tierspiegel. Zu einigen Bilder der Malerin Barbara Koch, unveröffentlichtes Manuskript, Hamburg 1994.
6 Barbara Koch im Gespräch mit der Autorin, 26. August 2011, Hamburg.
7 Ebd.
8 Aus: Barbara Koch: Ateliernotizen, (4) In der Landschaft 1986-89, 1994.
9 Barbara Koch im Gespräch mit der Autorin, s. o.
10 Vgl. Franz Marc: Über das Tier in der Kunst, in: ders.: Zitronenpferd und Feuerochse. 100 Grafiken, hrsg. und mit einem Nachwort v. Andreas Hüneke, Leipzig 1990, S. 105.
11 Aus: Barbara Koch: Ateliernotizen, (4) In der Landschaft 1986-89, 1994
12 Ebd.
13 Vgl. Max Ernst: Was ist Surrealismus?, in: ders.: Hamburg 1994, S. 51.
14 Vgl. Franz Marc, Aphorismen, in: ders., Leipzig 1990, S. 107.